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Frieden in Nahost ist möglich

Warum Israel seine Rolle als "Täter" akzeptieren muss und ein neuer internationaler Verhandlungsrahmen nötig ist / Von Ludwig Watzal

Nach dem Mord an Israels Tourismus-Minister Rehavam Zeevi spitzt sich der Nahost-Konflikt dramatisch zu. Wie trotz aller Eskalation die Friedens-Utopie zur Wirklichkeit werden könnte, analysiert Ludwig Watzal, Journalist, Lehrbeauftragter an der Universität Bonn und Experte zur Frage der Menschenrechte im Nahen Osten. In seinem Buch Feinde des Friedens - Der endlose Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, jüngst erschienen im Aufbau Taschenbuch-Verlag Berlin, beleuchtet Watzal die Geschichte des Konflikts seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Die FR dokumentiert das letzte Kapitel sowie eine aus aktuellem Anlass geschriebene Vorbemerkung des Autors.

Jetzt darf nicht die Stunde der Hardliner und Scharfmacher sein, wie verständlich auch Rachegelüste auf den ersten Blick sein mögen. Wie paradox es auch scheinen mag, es muss die Stunde der Friedensinitiativen sein. Nicht noch mehr Schein-"Sicherheit" ist jetzt gefragt, sondern mehr "Gerechtigkeit", um den Kreislauf von Terror und Gegenterror zu durchbrechen. Die angekündigte Friedensinitiative der USA und vielleicht auch der EU ist dringender denn je; sie muss aber dem palästinensischen Volk ihr Selbstbestimmungsrecht und einen eigenen Staat bringen, der diesen Namen auch verdient. Einfach diesen "Friedensprozess" wiederzubeleben reicht nicht. Die Lösung dieses Konfliktes liegt primär in der Umsetzung des Völkerrechts und weniger im machtpolitischen Bereich. Um dem Völkerrecht eine Chance zu geben, muss Israel eine Revision des Zionismus einleiten und eingestehen, dass sein kolonialistisches Siedlungsprojekt gescheitert ist.

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Die Zeichen im Nahen Osten stehen zur Zeit nicht auf Frieden. Der "neue Nahe Osten", der in den Reden bei der Unterzeichnung der"Osloer Abkommen" 1993 in Washington beschworen wurde, ist eine Fata Morgana geblieben. Der Friedensprozess hat die elementaren Bedürfnisse der Palästinenser nicht befriedigt und ihnen keine Perspektiven für eine bessere Zukunft eröffnet. Er brachte nicht die ersehnte Freiheit von Unterdrückung, sondern verstärkte Repression in Form von Beschießung durch Panzer, Kampfhubschrauber und F-16-Kampfbomber, Häuserzerstörungen, Drangsalierungen jeder Art, monatelange Abriegelung, totale militärische und wirtschaftliche Belagerung, die Demütigung Arafats durch die israelischen Verhandlungsführer usw. Diese Desillusionierung ist die Basis für die schrecklichen Terroranschläge. Sie sind nicht zu rechtfertigen, aber man darf ihre wahren Ursachen nicht verkennen.

Die Palästinenser werden nicht als "Terroristen" geboren. Israels Staatspräsident Mosche Katzav hat in seiner Erklärung vom 23. Mai 2001 die politischen Umstände, die sie zu solchen werden lassen, völlig negiert. Eine rassistische Argumentation wie die seine schürt letztlich neuen Hass: "Es gibt eine riesige Kluft zwischen uns (Juden) und unseren Feinden - nicht nur, was die Fähigkeit anbelangt, sondern auch hinsichtlich der Moral, Kultur, der Achtung des Lebens und des Gewissens. Sie sind hier unsere Nachbarn, aber es scheint, als ob auf einer Distanz von einigen hundert Metern Menschen leben, die nicht zu unserem Kontinent, zu unserer Welt, tatsächlich aber zu einer anderen Milchstraße gehören."

Der Journalist Gideon Levy schätzte dagegen in Ha'aretz sachlich ein: "Die Polizei in Südafrika behandelte die Schwarzen, als ob sie keine Menschen wären. Das gleiche geschieht hier. Ein Nicht-Volk, Nicht-Menschen, Menschen ohne Rechte oder Menschenwürde - deshalb ist es in Ordnung, alles mit ihnen zu tun. Und dies durchdringt alles."

In Oslo blieben alle zentralen Streitpunkte ungelöst bzw. wurden auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Der eigenen Bevölkerung und dem Westen hat die israelische Regierung den Friedensprozess als einen großen Erfolg verkauft. Tatsächlich haben die Palästinenser substanzielle Zugeständnisse gemacht, ohne dafür entsprechende Gegenleistungen zu erhalten. Als es im Februar und März 1996 in Jerusalem und Tel Aviv zu den ersten schweren Bombenanschlägen kam, fragten viele Israelis konsterniert: Wieso antworten die Palästinenser auf unsere Konzessionen mit Gewalt? Diese weitverbreitete Ansicht und die Fortsetzung des Besatzungsregimes zeigen, dass den Palästinensern bis heute das Recht auf eine selbstbestimmte Zukunft nicht zugestanden wird.

Der Westen, des Konflikts überdrüssig, hat dies zu lange ignoriert. Ein weiterer Trugschluss westlicher Politiker und Befürworter des Friedensprozesses kommt in der Annahme zum Ausdruck, es gebe wesentliche Differenzen zwischen einer von der Arbeitspartei oder einer vom Likud-Block geführten Regierung. Zwischen beiden besteht jedoch weitgehend Konsens über die Behandlung der Palästinenser, die Rückgabe von Gebieten und die Verweigerung des Rückkehrrechtes für die Flüchtlinge.

Der Likud ist bereit, 42 Prozent des besetzten Landes aufzugeben, vielleicht ein Prozent mehr. Die Arbeitspartei hatte sich in dieser Frage lange nicht festgelegt. Baraks Angebot vom Juli 2000 in Camp David, 95 Prozent zurückzugeben, kommt einem Täuschungsmanöver gleich. Da Israel bereits 60 Prozent der Westbank als Staatsland deklariert hat, die es nicht zurückgeben wird, bezogen sich die 95 Prozent auf jene unumstrittenen 40 Prozent des besetzten Territoriums, von denen auch der Likud stets ausgeht. Für die Arbeitspartei ist Trennung das Zauberwort, sie möchte den neokolonialistischen Einfluss behalten und die Bewohner der Gebiete separieren, wohingegen Scharon ein Zusammenleben mit den Palästinensern für möglich hält.

Die Befürworter des Oslo-Prozesses argumentierten, dies sei erst ein Anfang. Die These vom "Fuß in der Tür" (Roni Ben Efrat, Chefredakteurin des Magazins Challenge) war ein weitverbreiteter Standpunkt innerhalb der israelischen Friedensbewegung und unter Vertretern der internationalen Staatengemeinschaft. Meine Befürchtung nach der Analyse des Abkommens war, dass die palästinensischen Unterhändler zu viele Kompromisse gemacht haben und ihr Volk letztendlich leer ausgehen würde. Die Vereinbarung enthielt weder einen detaillierten Zeitplan noch Angaben über die israelischen Vorstellungen vom Endziel wie zum Beispiel: Nach fünf oder mehr Jahren vertrauensvoller Zusammenarbeit bekommen die Palästinenser Zone A, B und C.

Die PLO-Führung hat sich seit Beginn der Oslo-Verhandlungen zu sehr von ihren eigenen Interessen leiten lassen. Hätte Arafat durch ein Referendum ermittelt, ob die Palästinenser mit den erzielten Resultaten einverstanden sind und ob der Friedensprozess fortgesetzt werden soll oder nicht, wäre die Illusion von einem neuen Hongkong oder Singapur nicht aufgekommen.

Kein unabhängiger Palästinenserstaat, nur einige Quadratkilometer Land hier und dort - dies war von Anfang an die Position der israelischen Unterhändler. Die Vereinbarungen sind Sicherheitsabkommen zum alleinigen Nutzen Israels. Um die Opposition innerhalb der eigenen Bevölkerung niederzuhalten, bekam Arafat eine starke Polizeitruppe. Im Gegenzug gewährte Israel ihm sowie anderen Funktionären der Autonomiebehörde "Vergünstigungen" in Form von VIP-Pässen. Selbst Arafat besitzt jedoch kein Recht auf freie Ein- und Ausreise. Das Hissen der palästinensischen Fahne, eigene Briefmarken, eine Dudelsackkapelle, die bei offiziellen Anlässen aufspielt, sind Insignien einer Pseudosouveränität, denn den Palästinensern wird das Recht auf Souveränität noch immer verweigert, und sie leben in einem "Gefängnis mit Mittelmeerblick".

Die Oslo-Verträge bieten ihnen keinerlei Möglichkeit, eine eigenständige Wirtschaft aufzubauen. Dem Wirtschaftsabkommen von Paris zufolge ist die palästinensische Ökonomie der israelischen untergeordnet. Sie ist mit dem israelischen Markt eng verknüpft, hat aber keinen Zugang zum arabischen.

Die USA und die Europäische Union bewerten die Oslo-Abkommen als Weg zu einer gerechten Lösung. Auch die Medien haben den Eindruck vermittelt, die Palästinenser hätten ihre Freiheit erhalten. Insbesondere die einseitige Fixierung der USA auf israelische Sicherheitsinteressen trägt langfristig eher zur Destabilisierung der Region bei, weil sie die Dominanz und die hegemonialen Interessen Israels festigt. Kein US-Präsident war so pro-israelisch wie Bill Clinton. Die Clinton-Administration hat systematisch die Aushöhlung und Uminterpretation des Völkerrechts zu Gunsten Israels vorangetrieben. Frühere US-Regierungen bezeichneten die Westbank, den Gaza-Streifen und die Golan-Höhen als "besetzte Gebiete", in Clintons Amtszeit galten sie lediglich als "umstrittene Gebiete", deren Status in bilateralen Verhandlungen geklärt werden sollte. Als die Palästinenser Baraks Pläne ablehnten und damit den Camp-David-Gipfel scheitern ließen, wies Clinton ihnen öffentlich im israelischen Fernsehen die Schuld zu: "Arafat hat in Camp David daran gearbeitet, die israelische Sehnsucht nach Jerusalem zunichte zu machen." Eine entsprechende palästinensische Sehnsucht war für ihn nicht relevant. Die wahren Gründe für das Scheitern lagen aber in der Intransigenz Israels und dem Unvermögen oder der mangelnden Bereitschaft Clintons, Israel zu wirklichen Konzessionen zu bewegen. Der US-Präsident sah in jeder palästinensischen Verhandlungsposition eine potenzielle Bedrohung Israels.

Die USA und Israel verhindern jeglichen Fortschritt in Richtung palästinensischer Selbstbestimmung, solange sie die Bantustanisierung der Westbank als Lösung favorisieren. Wenn die Vereinigten Staaten zu einem dauerhaften Frieden im Nahen Osten beitragen wollen, müssen sie wieder zur Rolle eines ehrlichen Maklers wie unter Jimmy Carter zurückfinden und das Völkerrecht ins Zentrum der Verhandlungen rücken. Gelingt es der neuen amerikanischen Regierung unter George W. Bush nicht, Israel zur Einhaltung des Völkerrechts und zur Achtung der Menschenrechte der Palästinenser anzuhalten, wird auch er keinen Erfolg im Nahen Osten haben. Die USA können vor der Weltöffentlichkeit die Nichtachtung des Völkerrechts durch Israel nicht permanent ignorieren, aber unter Berufung auf dieses Recht Kriege gegen andere Völker führen.

Bisher hat keine israelische Regierung den Anspruch der Palästinenser auf einen souveränen Staat anerkannt. Im jetzigen Kabinett Ariel Scharons sind rechtsnationalistische und religiös-fundamentalistische Politiker vertreten, die den besetzten Gebieten einen "heiligen" Status zuweisen. Ein Teil der Regierungsparteien lehnt den säkularen israelischen Staat prinzipiell ab. Dass diese Kräfte keinen positiven Ansatz zur Lösung des Nahostkonfliktes entwickeln, liegt in der Logik ihres Denkens.

Durch den mehr als 50-jährigen "Belagerungszustand" hat sich in Israel eine stark militaristische Kultur entwickelt. Doch selbst mit einem solchen Militärpotenzial kann man ein Volk nicht auf Dauer beherrschen. Südafrika ist ein Beispiel dafür, dass sich ein Volk nicht für immer unterdrücken und in Bantustans verbannen lässt. Einen solchen Irrweg sollte sich Israel ersparen, denn er verlängert nur die Tragödie für beide Seiten. Nicht auszudenken wäre es, wenn eines Tages israelische Atomraketen unter die Kontrolle fanatischer Rabbiner kämen, die Israel in einen halachischen Gottesstaat verwandeln wollen. Die Kontrolle dieser Massenvernichtungswaffen müsste im Interesse des Westens liegen; es ist völlig unverständlich, warum die USA den Atomwaffensperrvertrag in Bezug auf Israel nicht anwenden, das als einziger Staat in der Region über Atomraketen verfügt. Alle anderen Regierungen des Nahen Ostens wurden gezwungen, dem Vertrag beizutreten.

Ein souveräner Palästinenserstaat läge aus mehreren Gründen im Interesse Israels. Er wäre weder ökonomisch und politisch noch militärisch eine Bedrohung für das Land. Im Gegenteil: Die verspätete Staatsgründung auf Grund der UNO-Resolution würde die Existenz Israels in den international anerkannten Grenzen legitimieren. Ein zu schaffendes regionales Sicherheitssystem und die daraus resultierende Kooperation kämen dem Sicherheitsbedürfnis Israels entgegen. Durch die Rückgabe der besetzten Gebiete wäre jedem Terror die Grundlage entzogen. Auch Hamas und die anderen islamistischen Gruppen hätten dies zu akzeptieren, weil die Grundlage für ihren weiteren Widerstand entfallen wäre.

Für die Schaffung eines dauerhaften Friedens bedarf es zweier neuer Grundlagen: einer veränderten politischen Einstellung Israels und eines anderen internationalen Verhandlungsrahmens. Die erste Vorbedingung ist, ein Minimum an Gerechtigkeit für die Palästinenser zu schaffen. Der Journalist Arnold Hottinger hat 1994 im Vorwort zu meinem Buch "Frieden ohne Gerechtigkeit?" bereits darauf hingewiesen: "Die Palästinenser können nicht ,gerecht' behandelt werden, solange man vor sich selbst, vor ihnen und vor der ganzen Welt abstreitet und leugnet, was sie erleiden mussten und bis zur Gegenwart weiter erleiden. Dies ist nicht nur eine moralische, sondern auch eine politische Grundfrage. Es wird und kann keinen wirklichen Frieden geben, solange die Israelis sich selbst und dem Rest der Welt erklären, sie hätten immer moralisch und politisch richtig, gerecht und sauber gehandelt. Nur wenn sie einmal selbst erkennen, dass sie den Palästinensern schweres Unrecht angetan haben, besteht die Möglichkeit, dass ein dauernder Frieden mit ihren heutigen Untertanen und künftigen Nachbarn (?) zu Stande kommen kann."

Die im Folgenden dargelegten ideologischen Prämissen als Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden zu akzeptieren, erfordert Mut von den Konfliktparteien: Israelis und Palästinenser müssen die kollektive Erinnerung des anderen ernstnehmen, die Teil des gewaltsamen existenziellen Kampfes um das nationale Überleben ist. Beide sehen sich als Opfer. Dadurch wird eine gegenseitige Anerkennung der Leiden verhindert. Israel muss seine Rolle in der Nakba (Katastrophe) bei der Vertreibung der Palästinenser im Jahre 1948 anerkennen, die Palästinenser müssen die Bedeutung des Holocausts für die israelische Gesellschaft akzeptieren. Die Mehrheit der Israelis weigert sich, die Ereignisse von 1948 unter dem Aspekt von Recht und Gerechtigkeit zu betrachten, sie leugnen diese ethnische Säuberung.

Israel muss seine Rolle als Täter (Viktimisierer) akzeptieren. Dies dürfte der politischen Klasse des Landes schwer fallen, da sie das Selbstbild des Opfers von Anfang an gepflegt hat. Das Opferimage als Quelle der moralischen Unterstützung ist seit dem mit Frankreich und Großbritannien 1956 geführten kolonialistischen Angriffskrieg auf Ägypten, dem Sechstagekrieg von 1967, der Invasion Libanons 1982, der Intifada von 1987 und besonders seit der Al-Aqsa-Intifada vom September 2000 immer zweifelhafter geworden.

Die Ideologie des Zionismus ist ein Haupthindernis für die Aussöhnung mit den Palästinensern. Uri Avnery plädierte in der Frankfurter Rundschau vom 5. Mai 2001 für eine völlig neue Darstellung der nationalen Geschichte. Der Mitbegründer von Gusch Schalom erklärt in seinen 80 Thesen zur Lösung des Konfliktes, ein neu zu schaffendes Friedenslager müsse "die öffentliche Meinung zu einer mutigen Neubewertung der nationalen Historie und deren Befreiung von falschen Mythen stimulieren". Beide Völker müssten sich darauf einigen, ihre gemeinsame Geschichte vorurteilsfrei aufzuarbeiten. Der israelischen Öffentlichkeit müsse vermittelt werden, dass mit den angeblich positiven Seiten des Zionismus "dem palästinensischen Volk ein furchtbares Unrecht angetan wurde".

Der Politikwissenschaftler Ilan Pappe hat mit einem ähnlichen Vorschlag einen Weg aus dem Dilemma gewiesen: "Das Atomwaffenarsenal, der riesige militärische Komplex, der allgegenwärtige Sicherheitsdienst - es erwies sich als nutzlos gegenüber der Intifada und dem Guerillakrieg in Südlibanon. Es ist nutzlos angesichts der Millionen ständig frustrierter und radikalisierter palästinensischer Bürger Israels oder gegenüber dem Aufbegehren der Flüchtlinge, die ihre Enttäuschung über die opportunistische palästinensische Autonomiebehörde und die zerfallende PLO nicht mehr zurückhalten können . . . Versöhnung ist nur zu erreichen durch ein Ende der Viktimisierung und die Anerkennung der Rolle Israels als Viktimisierer."

Der Friedensprozess à la Oslo ist gescheitert und sollte auf dieser Grundlage auch nicht fortgesetzt werden. Nur die oben skizzierte ideologische Umorientierung in Israel und eine internationale Friedenskonferenz unter Federführung der Vereinten Nationen und mit Beteiligung der USA, der Europäischen Union und Russlands kann wieder Bewegung in den völlig festgefahrenen Prozess bringen. Wenn alle Konfliktparteien - Israel, Syrien, Libanon und die Palästinenser - daran teilnehmen, könnte es gelingen, der Region einen stabilen Frieden zu sichern. Gegen einen solchen Plan wehren sich die USA und Israel jedoch vehement, weil sie in dieser Konstellation ihre machtpolitischen Vorstellungen nicht durchsetzen könnten, die bisher nur Israel genützt haben.

Wenn ein Akteur berufen ist, am Verhandlungstisch zu sitzen, dann sind es die Vereinten Nationen. Israel ist der einzige Staat der Welt, der durch eine UN-Resolution geschaffen worden ist. Die palästinensischen Flüchtlinge werden seit ihrer Vertreibung durch Israel von der UN-Organisation UNRWA betreut. Eine Umsetzung der UN-Resolutionen zum Nahostkonflikt würde den Frieden wesentlich stärker befördern als der bisherige "Friedensprozess", der die Unterwerfung der Palästinenser als Voraussetzung hat.

Frieden in der Region kann niemals auf Basis der Hegemonie und Dominanz der USA oder Israels gesichert werden, sondern nur auf der Grundlage des Völkerrechts. Die Resolution 242 des UN-Sicherheitsrats betont die "Unzulässigkeit des Erwerbs von Territorium durch Krieg" und verweist auf die Charta der Vereinten Nationen. Die Grundsätze dieser Charta verlangen die Herstellung eines gerechten und dauerhaften Friedens im Nahen Osten. Dies setzt voraus, dass die israelische Besetzung palästinensischen Landes beendet, das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser anerkannt, ein souveräner Palästinenserstaat mit der Hauptstadt Ost-Jerusalem geschaffen, die Rückkehr der Flüchtlinge in diesen neuen Staat gemäß den UN-Resolutionen gestattet sowie die Auflösung der Siedlungen in den besetzten Gebieten beschlossen wird. Von einer solchen Lösung würden Palästinenser und Israelis profitieren.

Die UN-Resolutionen zu Jerusalem sind Legion. Die Teilungsresolution 181 definiert Jerusalem als "corpus separatum" und stellt die Stadt unter internationale Verwaltung; Resolution 194 regelt die Rückkehr und die Entschädigung der palästinensischen Flüchtlinge. Die Resolution 242 des UN-Sicherheitsrates verlangt den Rückzug Israels aus allen besetzten Gebieten und betont, dass Landerwerb durch militärische Besetzung unzulässig sei. Israel hat aber allein 60 Prozent der Westbank für den Siedlungsbau und für ein separates Straßensystem zur Vernetzung der Siedlungen enteignet. Der Transfer der eigenen Bevölkerung in besetztes Gebiet widerspricht der 4. Genfer Konvention, ebenso die Annexion der Golan-Höhen oder Ost-Jerusalems.

Die Europäische Union leistet den größten finanziellen Beitrag im Friedensprozess. Die Uneinigkeit der europäischen Staaten und ihre mangelnde Bereitschaft, größere Verantwortung zu übernehmen, haben es bisher verhindert, dass sie eine relevante Rolle bei der Lösung des Nahostkonflikts spielen. Vorstellbar wäre die Entsendung einer bewaffneten Friedenstruppe gemeinsam mit den USA, um die Kontrolle der Grenze zum Gaza-Streifen oder der Westbank zu übernehmen und Israel gemäß der UN-Resolution 242 zum Rückzug aus den besetzten Gebieten zu veranlassen. Mit der Beteiligung von Javier Solana, dem Beauftragten für die "gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" der EU am Krisengipfel im August 2000 in Sharm el-Sheikh, wurde ein Präzedenzfall geschaffen. Dieses "window of opportunity" sollten die Europäer kreativ nutzen, damit sie ein permanenter Verhandlungspartner werden. Der Versuch, die Assoziierungsabkommen mit Israel und der palästinensischen Autonomiebehörde sowie die hohen Zuwendungen der EU an die Autonomiebehörde als Macht- und Druckmittel scheiterte an der Tatsache, dass jede nationale europäische Regierung ihre eigene Nahostpolitik verfolgt.

Die Bundesregierung weigert sich aus historischen Gründen, eine stärkere Rolle im Nahostkonflikt zu spielen. Dass sie auch aktiver handeln kann, hat Außenminister Joschka Fischer mit seiner Pendeldiplomatie während eines Besuches in Israel Anfang Juni 2001 gezeigt. Seinen Gesprächen mit der israelischen und palästinensischen Führung sowie mit den USA und Vertretern der UN ist es zuzuschreiben, dass Arafat überzeugt werden konnte, nach dem Bombenanschlag vom 1. Juni in Tel Aviv den Terror zu verurteilen und gegen die Drahtzieher solcher Anschläge vorzugehen. Diese positive Erfahrung sollte die Bundesregierung ermutigen, ihre Bremserrolle in Bezug auf den Nahen Osten in der EU aufzugeben. Mitglied im UN-Sicherheitsrat sein zu wollen und politische Abstinenz zu üben - das widerspricht sich. Kanzler Schröders Forderung, das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser müsse realisiert und ein Palästinenserstaat geschaffen werden, entspricht der EU-Erklärung von Venedig im Jahre 1971 und von Berlin im März 1999.

Zusammen mit Frankreich könnte die Bundesregierung dieser Forderung mehr Nachdruck verleihen und politisch handlungsfähiger werden. Europäische Interessenpolitik in der Region muss die Hegemonie und Dominanz der USA ausbalancieren. Wie glaubwürdig deren Politik ist, zeigt sich, wenn sie trotz "Schurkenstaaten-Doktrin" mit Irak ökonomisch gut im Geschäft sind, während sie von den Europäern verlangen, sich an die unsinnigen Prämissen dieser "Doktrin" zu halten. Für eine Selbstbeschränkung der EU, sich aus dem Nahostkonflikt herauszuhalten, gibt es also keine rationale Basis mehr.

Die Reaktionen der Palästinenser auf Camp David und die Provokationen von Ariel Scharon, die zum Al-Aqsa-Aufstand führten, haben den USA und Israel deutlich gemacht, dass die Kompromissbereitschaft und die Leidensfähigkeit dieses Volkes Grenzen hat. Scharon will die israelischen Positionen in Bezug auf die Essentials des Konflikts weiter stärken. Unter diesem Ministerpräsidenten, dessen Vita für Konfrontation und Abenteurertum steht, wird Israel wahrscheinlich noch weniger zu einem fairen Ausgleich mit seinen Nachbarn bereit sein als in den letzten Jahren. Sollte es zu einem Krieg im Nahen Osten kommen, könnten die Israelis versucht sein, die Palästinenser aus der Westbank zu vertreiben. In Israel wird in der Öffentlichkeit und im Parlament offen über die "Vollendung" der Aktion von 1948 diskutiert. Der entsprechende populäre und populistische Slogan lautet: "Lasst die IDF (Armee) gewinnen." Sollte sich ein Sieg der Armee in Form einer Massenvertreibung oder eines Völkermordes manifestieren, müsste eine internationale Interventionsstreitmacht die Palästinenser schützen.

Die Autonomiebehörde hat eine staatsähnliche Struktur geschaffen, und "Präsident Arafat" wird bei seinen "diplomatischen Weltumsegelungen", so der Nahostkorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung, Victor Kocher, von allen Staatsoberhäuptern empfangen. Einen souveränen Staat und eine frei prosperierende Gesellschaft können die Palästinenser jedoch erst dann aufbauen, wenn ihre völkerrechtlich legitimen Rechte anerkannt und gesichert werden.

Dieses Ziel scheint gegenwärtig utopischer denn je. Fortschritte bei der Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts hängen nicht nur von der Einstellung des Widerstandes der Palästinenser ab, sondern auch von den Israelis. Sie müssen das kolonialistische Siedlungsabenteuer beenden und das gegenüber den Palästinensern begangene Unrecht eingestehen. Beide Seiten müssen Extremisten in ihren Reihen in die Schranken verweisen und sich gegenseitig respektieren lernen. Ein großer Teil der Israelis und Palästinenser ist friedenswillig, ob ihre Führer friedensfähig werden, hängt auch von den verantwortlichen Politikern in den USA und in Europa ab.

© Aufbau Taschenbuch Verlag GmbH,

Berlin 2001

Siehe auch das FR-Spezial Die Nahost-Krise

 

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Copyright © Frankfurter Rundschau 2001
Dokument erstellt am 18.10.2001 um 21:57:20 Uhr
Erscheinungsdatum 19.10.2001

 

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