Über den moralischen Niedergang von Israel Einseitig, unausgewogen und doch interessant. Ein neues Buch kritisiert das heutige Israel massiv. Ernest Goldberger nimmt für sich in Anspruch, eine Analyse des israelischen Kollektivs geschrieben zu haben. Diese hat aber ein gravierendes Manko: Er beschreibt die eine Hälfte der Gesellschaft als gut, wohingegen die andere seiner Verdammnis anheim fällt. Das Gute mit links und friedens- und ausgleichswillig assoziiert, das Schlechte mit rechts und friedensunwillig, und das Religiöse ist sowieso des Teufels. Rückbesinnung auf Herzl Der Autor, der 1991 aus der Schweiz nach Israel emigrierte, weist zurück auf Staatsgründer Herzl. Dieser war der Ansicht, dass nur ein allgemein anerkannter Staat Bestand haben kann. Vielen der heutigen israelischen Politiker fehle diese historische Sicht. «Sie opfern das Prinzip der internationalen Anerkennung für ein Stück Boden und bauen lieber auf die Kraft der Armee.» In vier Kapiteln behandelt Goldberger Israels Schicksalsthemen, die Vorstellungen Herzls und den Zionismus, den Messianismus, die Entleerung der jüdischen Religion, den Kolonialismus im Namen Gottes, die Zerstörung der Umwelt, die nukleare Option, Israels Kriege, Guru- und Führerkult, Israels stille Helden und andere mehr. Goldberger sieht Israel in einem permanenten Abstieg begriffen: von den einst frühen, idealistischen Vorstellungen hin zu einer Enge und Rechthaberei sowie auf dem Weg der gesellschaftspolitischen Desintegration. Er empört sich gleichermassen über die fortschreitende Umweltzerstörung, die Aggressivität im Strassenverkehr, die Erschöpfung der natürlichen Ressource Wasser sowie die Atomwaffenindustrie. Jüdischer Staat - Staat für Juden Für den Autor ist Israel keine Demokratie im klassischen Sinne, weil das Land ein Viertel seiner Bevölkerung gesetzlich diskriminiere. Die Ursache sei, dass die Gründungsväter keine klare Trennung zwischen Staat und Religion vorgenommen hatten und einen jüdischen Staat anstatt eines Staates für die Juden geschaffen hätten. In einem lesenswerten Kapitel weist Goldberger auf die abgestrittene Schuld, die Israel im Unabhängigkeitskrieg von 1948 durch die Vertreibung oder «freiwillige Flucht» auf sich geladen hat. Infolge dieser kriegerischen Auseinandersetzungen wurden fast 400 palästinensische Dörfer zerstört, die Besitztümer beschlagnahmt und den Flüchtlingen ihre Rückkehr in ihre Heimat bis heute verwehrt. «Dieses Unvermögen ist das grösste psychologische Hindernis für eine Aussöhnung zwischen den zwei Völkern.» Was hat der Autor als Ausweg seiner massiven Kritik der herrschenden Verhältnisse in Israel anzubieten? Für ihn wurde bisher von Herzls Vision nur die Errichtung des Staates der Juden und deren Rechte, jederzeit in dieses Land einzuwandern und die bürgerlichen Rechte zu erhalten, umgesetzt. Herzl wollte aber mehr: eine Erneuerung des jüdischen Menschen. Der israelische Staat sollte eine friedensfähige, gerechte, tolerante und fortschrittliche Gesellschaft im Sinne der Aufklärung und des modernen Humanismus sein. Dies wurde nach Goldberger verfehlt. Skandalreihe Das Buch ist trotz seiner Einseitigkeit und Eindimensionalität eine interessante und überaus lesenswerte Lektüre. Ärgerlich ist, das der Autor seitenweise Skandälchen aneinander gereiht hat. Teile des Buches erwecken den Eindruck einer Boulevard-Chronik, wie man sie anhand von einseitigen Zeitungsartikeln über jedes Land zusammenstellen kann. Goldberger verpasst allen denjenigen Israelis ein Ohrfeige, die sich für das Land einsetzen und mit denen der Autor nicht übereinstimmt. Trotzdem liefert der Autor eine Interpretation der israelischen Gesellschaft, die zu oft in Deutschland ausgeblendet wird. Dies macht das Opus für den deutschen Sprachraum so wertvoll. Ludwig Watzal Ernest Goldberger, Die Seele Israels. Ein Volk zwischen Traum, Wirklichkeit und Hoffnung, Wilhelm Fink Verlag/NZZ-Verlag, München-Zürich 2004, Fr. 58, Euro 38.