8. Februar 2003, 02:18, Neue Zürcher Zeitung Nahostkonflikt als Spiegel der Weltwirtschaft Eine marxistische Sicht von Krieg und Entspannung «Seit der Staatsgründung Israels hat sich das Land von einer landwirtschaftlichen Kolonie in einen Wohlfahrtsstaat verwandelt, der total in den Weltmarkt integriert ist, aber grosse Einkommensunterschiede aufweist. Jonathan Nitzan und Shimshon Bichler lehren politische Ökonomie in Israel und den USA und warten mit provokanten Thesen zum Nahostkonflikt auf: Der Nahostkonflikt werde nicht auf den Strassen von Nablus oder in den Hütten des Flüchtlingslagers Jenin entschieden, sondern in den Führungsetagen der multinationalen Konzerne, in denen die Spitzen der Rüstungs- und der Ölindustrie die Fäden gegen die Kritiker der Globalisierung zögen. Diese These klingt auf den ersten Blick wie eine Verschwörungstheorie, aber das Buch ist viel zu seriös, als dass man es mit diesem Vorwurf diskreditieren könnte. Allianz von Rüstungs- und Ölwirtschaft Oberflächlich betrachtet hätten wir es im Nahen Osten mit einem Huntington'schen «Zusammenstoss der Kulturen» zu tun, schreiben die Autoren. Diese Sicht drückt sich häufig in Klischees aus: «Jihad versus McDonald's», «islamischer Fundamentalismus versus Markt», «fremdenfeindlicher Nationalismus versus Neoliberalismus» oder «Dritte Welt versus Erste Welt». In jeder Verallgemeinerung steckt ein Korn Wahrheit, so gewiss auch in diesen. Neben den oberflächlichen Erklärungsmustern gibt es aber gewichtigere Gründe, welche die radikale Umkehr in den internationalen Beziehungen erklären. Für die Autoren liegen sie in der Natur der Kapitalakkumulation, den Besitzverhältnissen und den innerkapitalistischen Widersprüchen. Alles altbekannte marxistische Analysekategorien. In den Kapiteln «Kapital und Macht», die «Geschichte der israelischen Machtstruktur», die «Schaffung der Stagflation», die «WaffendollarPetrodollar-Koalition» und «Vom ausländischen Investor zum transnationalen Besitzer» wird die Entwicklung Israels politökonomisch gedeutet. Erstmals werden diese Fragen gestellt und beantwortet. Um die kapitalistische Entwicklung zu verstehen, so lautet eine These der Autoren, sei es notwendig, die künstliche Trennung zwischen Wirtschaft und Politik aufzuheben. Wie künstlich diese Allianz sei, zeigen die Autoren an der Entstehung der «Waffendollar-Petrodollar-Koalition» zu Beginn der siebziger Jahre. Sie bestand aus den Ölgesellschaften, den Waffenproduzenten und der Opec und wurde von den USA und einigen europäischen Ländern unterstützt. Der zentrale Fokus dieser Allianz bestand in der «Energie- und Ölkrise». Die Logik dieses Prozesses war einfach: Hohe Preise brachten den Ölgesellschaften grosse Profite. Auch die Opec-Länder profitierten davon und kauften von diesem Geld Waffen, um sich auf den nächsten Krieg vorzubereiten. Zu dieser Zeit ging ein Drittel der Waffenexporte in den Nahen Osten. New Economy und Friedensprozess Diese Koalition zerbrach 1990 nach dem Ende des Kalten Krieges und wurde - immer gemäss den Autoren - durch die «Technodollar-Mergerdollar-Koalition» ersetzt, die auf ziviler Technologie gründete. Statt von «Kriegsprofiten», Nationalismus und Konflikten sprach man jetzt von «Friedensdividende», Auslandinvestitionen und neuen Märkten. Diese neoliberale Koalition schien bis Ende 2000 auch äusserst erfolgreich. Ihre Profite stiegen auf 15 Prozent, wohingegen die Gewinne aus dem Öl- und dem Waffengeschäft nur 3 Prozent ausmachten, wie Nitzan und Bichler festhalten. Die Politik des Friedensprozesses habe allerdings Erwartungen des transnationalen Liberalismus zunichte gemacht, weil man Arafat zum Chef von «Palustan» und die besetzten Gebiete zu einem «Schweizer Käse» gemacht habe, einem Gebilde ohne politische und wirtschaftliche Souveränität, ohne Wasserrechte, mit allen Siedlungen und in totaler Abhängigkeit von Israel. Hinzu kamen die innerisraelischen Probleme, insbesondere die demographischen. Neues Gewaltpotenzial Für die Autoren entscheidet nicht Ariel Sharon oder Yasir Arafat über die Zukunft des Nahostkonfliktes. Sie seien Rädchen in einem grösseren Ganzen und verfügten nur über einen ihnen zugestandenen Handlungsspielraum. Nicht Persönlichkeit oder Ideologie sind demnach die entscheidenden Faktoren, sondern die globalen ökonomischen Verhältnisse. Als Sharon die Macht übernahm, hatte die New Economy ihren Höhepunkt bereits überschritten. Der Ölpreis stieg von 1999 bis 2000 von 10 auf 30 Dollar. Im Januar 2001 übernahm eine erzkonservative Elite die Macht in den USA, welche die Interessen der Öl- und Rüstungswirtschaft vertritt. Für die Autoren ist der Nahostkonflikt ein Spielball der beiden sich widerstreitenden Koalitionen. Sollte die Öl- und Waffenlobby obsiegen, dann könnten sich der Konflikt und die Gewalt als zerstörerisch für die Region entpuppen, lautet das Fazit. Auf den ersten Blick mag die Stringenz der marxistischen Analyse anachronistisch wirken, aber sie bietet ein völlig anderes Erklärungsmuster für einen Konflikt, der gemeinhin als ein Kampf um Land, Wasser, Ideologie oder Selbstbestimmung gedeutet wird. Die Autoren wollen mit der «irreführenden» Terminologie, die diesen Konflikt beherrscht, aufräumen und Israel als Dominostein in dem von den USA dominierten kapitalistischen System verorten. Der ganze Nahostkonflikt gerinnt zu blosser Politökonomie; dies verleiht dem Buch teilweise kafkaeske Züge. Es sollte aber nicht nur von Ökonomen zur Kenntnis genommen werden. Ludwig Watzal Jonathan Nitzan and Shimshon Bichler: The Global Political Economy of Israel. Pluto, London 2002. 407 S., £ 19.90.