herzl für heute: Goldbergers Visionen Ernest Goldberger nimmt für sich in Anspruch, eine Analyse des israelischen Kollektivs geschrieben zu haben. Sie hat nur einen Fehler: Die eine Hälfte der Gesellschaft ist darin schlicht gut, die andere verdammt er völlig.... LUDWIG WATZAL Der Leser sollte nicht überrascht sein, wenn er das Gute mit links, friedens- und ausgleichswillig assoziiert, das Schlechte mit rechts und friedensunwillig - alles Religiöse ist sowieso des Teufels. Dass die Realität nicht diesem Schwarz-Weiß-Klischee entspricht, weiß Goldberger natürlich, aber er ignoriert es großzügig. In diesem Sinne bekannte er auch kürzlich bei einer Vernissage in Tel Aviv, dass ihn Positives in Israel nicht interessiere. Er empört sich in seinem Buch gleichermaßen über die fortschreitende Umweltzerstörung, die Aggressivität im Straßenverkehr, die Erschöpfung der natürlichen Ressource Wasser sowie die Atomwaffenindustrie. Das Land sei auf dem absteigenden Ast. Für den Autor ist Israel zudem keine Demokratie im klassischen Sinne, weil das Land ein Viertel seiner Bürger, nämlich jene nichtjüdischer Religion (muslimische und christliche Araber, Drusen), gesetzlich diskriminiere. Die Gründungsväter hätten eben keine klare Trennung zwischen Staat und Religion vorgenommen und einen jüdischen Staat anstatt eines Staates für die Juden geschaffen. In einem lesenswerten Kapitel weist Goldberger auf die nicht aufgearbeitete und abgestrittene Schuld hin, die Israel im Unabhängigkeitskrieg von 1948 durch die Vertreibung oder "freiwillige Flucht" auf sich geladen hat. Infolge dieser kriegerischen Auseinandersetzungen wurden fast 400 palästinensische Dörfer zerstört, die Besitztümer beschlagnahmt, und den Flüchtlingen wurde die Rückkehr in ihre Heimat bis heute verwehrt. "Dieses Unvermögen ist das größte psychologische und psychosoziale Hindernis für eine Aussöhnung zwischen den zwei Völkern." Die Sorgen über den Fortbestand Israels, die Goldberger formuliert, sind kürzlich auch von den ehemaligen vier Geheimdienstchefs sowie dem ehemaligen Präsidenten der Knesset, Abraham Burg, in einem dramatischen Appell geäußert worden. Auch Shimon Peres hält den Bestand des Landes für noch nicht gesichert. Die politische Elite des Landes reagiert darauf aber weiterhin nur mit gewaltsamer Unterdrückung der Palästinenser. Das sei ein Grund, warum das Land in eine solch existenzielle Krise geraten sei. Und was hat der Autor als Ausweg für Israel anzubieten? Für ihn wurde bisher von Herzls Vision nur wenig umgesetzt: so die Errichtung des Staates der Juden und deren Recht, jederzeit in dieses Land einzuwandern und die dort geltenden bürgerlichen Rechte zu erhalten. Eine weitere Errungenschaft sei die Anerkennung Israels durch eine Vielzahl anderer Staaten - in den Grenzen von Juni 1967. Herzl wollte jedoch mehr, und zwar eine Erneuerung des jüdischen Menschen, wie er sie im Roman "Altneuland" darstellte. Israel sollte eine friedensfähige, gerechte, tolerante und fortschrittliche Gesellschaft im Sinne der Aufklärung und des modernen Humanismus sein. Dieses Ziel würde allerdings von den israelischen Politikern verfehlt, meint Goldberger. Seine eigene Vision besteht in einer Konzeption, die er "Neualtland" nennt. Sie soll Herzls Programm für das heutige Israel aktualisieren. Ob dieses Ziel mit den liberalen Kräften, der "Roadmap" und der "Genfer Initiative" zu erreichen ist, scheint bei der augenblicklichen Kräftekonstellation mehr als fraglich. Das Buch ist trotz seiner Einseitigkeit und Eindimensionalität eine interessante und überaus lesenswerte Lektüre. Ärgerlich ist, dass der Autor seitenweise Skandälchen aneinander gereiht hat. Teile des Buches erwecken den Eindruck einer Boulevardchronik, wie man sie anhand von einseitigen Zeitungsartikeln über jedes Land zusammenstellen kann. All jenen Israelis, die sich für das Land einsetzen und mit denen der Autor nicht übereinstimmt, verpasst er ein paar Backpfeifen. Trotzdem liefert Goldberger eine Interpretation der israelischen Gesellschaft, die zu oft in Deutschland ausgeblendet wird. Dies macht das Werk für den deutschen Sprachraum so wertvoll. Ernest Goldberger: "Die Seele Israels. Ein Volk zwischen Traum, Wirklichkeit und Hoffnung". Wilhelm Fink Verlag, München 2004, 489 Seiten, 38 Euro. In: taz vom 21. 8. 2004.